Ich und du und alle, die wir kennen
(Me and You and Everyone We Know)

23.02.2006, USA, 90min
Filmspiegel-Auszeichnung
R: Miranda July
B: Miranda July
D: John Hawkes,
Miranda July,
Miles Thompson,
Brandon Ratcliff,
Jordan Potter
L: Webseite, IMDb, Trailer
Ausgezeichnet
116
Gelungen
70
Mittelprächtig
79
Dürftig
54
Schrott
66
385
„Mit weit aufgerissenen Augen starrt July in diese Welt, und ganz ähnlich wie Zach Braff im geistesverwandten "Garden State" findet sie hinter jedem schmutzigen Tabu eine schöne Idee und eine Handvoll wunderbarer Bilder.” - 
Schnitt
„When the movie was over at Sundance, I let out my breath and looked across the aisle at another critic. I wanted to see if she felt how I did. "What did you think?" she said. "I think it's the best film at the festival," I said. "Me too," she said.” - 
Roger Ebert
„You poop into my butt hole and I poop into your butt hole... back and forth... forever”
Inhalt
Richard Swersey (John Hawkes) ist Schuhverkäufer, Vater zweier Söhne und frisch geschieden. Als er der bezaubernden, impulsiven Christine Jesperson (Miranda July) begegnet, ergreift ihn Panik, so gerne er auch die zarten Überraschungen des Lebens für sich wieder zulassen würde. Christine ist Künstlerin, die sich ihren Lebensunterhalt mit einem Fahrdienst für Senioren verdient. Genau wie in ihrem Leben vermischen sich auch in ihren Kunstwerken Realität und magische Fantasie. Mit diesem besonderen Blick auf das Leben versucht Christine ihre Hoffnungen und Sehnsüchte Realität werden zu lassen. Einen weniger indirekten Zugang zum Leben haben Richards Söhne: Während der 6-jährige Robby eine gewagte Internet-Affäre mit einer Unbekannten beginnt, stellt sich sein 14-jähriger Bruder Peter als Versuchskaninchen für ein paar Mädchen aus der Nachbarschaft zur Verfügung, die sich auf ihre ersten sexuellen Erfahrungen und ihr zukünftiges Eheleben vorbereiten wollen.
Kurzkommentar
Von zahlreichen Pressestimmen wurde „Ich und du und alle, die wir kennen“ euphorisch als „urkomische“ und „wunderbar romantische Komödie“ angepriesen. Für Miranda Julys Spielfilm-Debut, welches am Sundance Festival 2005 nicht nur den Jury-Spezialpreis "Originality of Vision“, sondern in Cannes auch gleich die „Camera d'Or“ gewonnen hat, erweist sich jene Charakterisierung allerdings als erfreulich unzutreffend. Der Video-Künstlerin und Regisseurin ist in erster Linie eine entrückte und ungemein betörende Hommage an die wunderbar wunderliche Kinder- und Jugendzeit gelungen, die mit Sicherheit bereits jetzt zu den Independent-Perlen des diesjährigen Kinojahres gezählt werden darf.
Kritik
„Ich und du und alle, die wir kennen“ steht sowohl in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht ganz in der Tradition des US-amerikanischen Independent-Films, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, dass das Drehbuch in der Schreibwerkstatt des Sundance Festivals entstehen durfte. Entsprechend unkonventionell gibt sich der vielschichtige Film, dessen ungemein glaubwürdig inszenierte Figuren seltsam schräg in der Tristesse des prosaischen Suburbia-Alltag stehen. Die Handlung folgt keinem genrespezifischen Erzählmuster, da der Film weder von einer straffen Dramaturgie organisiert noch der Wahrnehmungshorizont des Publikums auf eine übergeordnete Struktur - in diesem Fall die Liebesgeschichte - gerichtet wird. Die Grundstruktur der gesamten Handlungsebene entspricht vielmehr einem verhältnismässig losen Sequenzen-Gefüge, dessen schlichte Narration mehrere gleichberechtigte Erzählstränge nebeneinander her schweben lässt. Aber gerade diese spezifische inszenatorische Beiläufigkeit bringt eine Vielzahl von annähernd metaphysisch anmutenden Zwischenräumen hervor, in welchen die triviale Vorstadt-Realität zur allerreinsten Poesie kondensiert.

Neben Michael Andrews vorzüglichem Soundtrack ist es zweifelsohne Miranda Julys offenem Arbeitsprozess zu verdanken, dass die Inszenierung einer ebenso bezaubernden wie streckenweise auch kuriosen Leichtigkeit verpflichtet ist: Die experimentellen Rahmenbedingungen der Dreharbeiten - unter anderem der Verzicht auf das Storyboard - ermöglichten es der Regisseurin, sämtliche Szenen spontan und von gegenwärtigen Stimmungen und Eindrücken beeinflusst zu gestalten.

Mit derselben Beiläufigkeit, mit welcher der Film inszeniert wurde, wird unter anderem auch die kindliche und jugendliche Sexualität thematisiert. Der filmische Diskurs zu diesem Thema neigt vor allem im zeitgenössischen US-amerikanischen Kino entweder zu dessen hochgradiger Problematisierung, indem die kindliche Sexualität mit Pädophilie in Zusammenhang gebracht wird, was zuletzt etwa in Gregg Arakis erschütterndem Drama „Mysterious Skin“ zu sehen war. Oder aber die jugendliche Sexualität befriedigt die voyeuristischen Bedürfnisse eines erwachsenen Publikums. Als Paradebeispiel sei auf das umstrittene, da pornographisch angehauchte Oeuvre von Larry Clark („Ken Park“) verwiesen.

Miranda July hingegen nähert sich dem, vor diesem Hintergrund als heikel zu bewertenden, Thema mit einem unschuldigen Blick, dem es weder an Taktgefühl und Respekt noch an Humor fehlt und primär die Sicht der Kinder und Jugendlichen widerspiegelt. Die Erwachsenen sind von ihrem Standpunkt aus betrachtet seltsame Wesen, die sich im Chat von den skurrilen Phantasien eines sechsjährigen Kindes erregen lassen oder den schlüpfrigen Provokationen vierzehnjähriger Mädchen auf den Leim gehen. Doch die neugierigen Experimente der Mädchen und Jungen enden in keinem traumatischen Desaster perverser Übergriffe, sondern bleiben im unschuldig-abstrakten Rahmen der kindlichen Phantasie verhaftet und münden höchstens in skurrilen Missverständnissen und dem köstlich komischen Anblick flüchtender Erwachsenen.

Schwebende Erzählung voller Poesie über das Kinder- und Erwachsenendasein im banalen Alltag der amerikanischen Vorstadt.


Cindy Hertach
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